Die Sibyllinischen Berge sind von je her das Reich der Legenden und großartigen Erzählungen, der Natur, die ihre primitive, lebendige sowie strenge Schönheit bewahrt hat, der an den Bergen hängenden Wallfahrtsorte und der gemeinsamen Gaumenfreuden mit wohlduftenden Gewürzen. Diese Natur, Gewässer, Grotten und Seen dienten als Inspirationsquelle für geheimnisvolle, eindrucksvolle Geschichten.

So lebte Sibylle, das alte Orakel, nach landläufiger Meinung in den tiefen Gebirgsschluchten, um diesen Ort von Anbeginn an zu beleben. Eine Art Orakel, das man die Zukunft fragen konnte und, dem man Sorgen sowie Zweifel anvertraute, das bereits in den Romanen des 15. Jhs. Erwähnung fand. Die Legende erzählt, dass sich unter dem Monte Sibilla ein Feenreich öffnet, das man über eine enge Grotte erreicht – ein von wunderbaren Kreaturen bewohntes Reich, die sich jedoch an einem Tag in der Woche in fürchterliche Monster verwandelten.

Laut Tradition liegt im Pilato-See der Körper von Pontius Pilatus, der von Tiberius zum Tode verurteilt in einen Sack gesteckt und dann einem Karren mit freilaufenden Büffeln anvertraut wurde, die ziellos herumirren konnten. Die Tiere seien schließlich von Rom bis zum Gipfel des Redentore gekommen, von dessen Spitze der Körper in das Seewasser gefallen sei.

Noch heute stoßen Besucher des Nationalparks der Sibyllinischen Berge inmitten dieses Zusammenspiels geheimnisvoller und beruhigender Landschaften mit Tälern, Grotten und Gewässern auf seltene und so gut wie ausgestorbene Tiere wie Wölfe, Wildkatzen, Igel und Rehe. Seit einigen Jahren wurden im Park wieder Hirschpopolationen und Alpengämse, Königsadler, Habichtsadler sowie Sperber, Waldohreulen und Wanderfalken angesiedelt. Vögel, die uns in die Zeit der Antike, der mittelalterlichen Jagd und der ersten Landschaftsmalereien zurückversetzen.

Ein Park, der die Marken und Umbrien, alte und unterschiedliche Lebensmittelproduktionen (angefangen von den Schinken aus Norcia bis hin zu den Linsen aus Castelluccio), herausragende Orte von großer Spiritualität, wie das Kloster Sant’Eutizio in Preci sowie geschichtsträchtige und Naturpfade von unvergleichbarem Wert umfasst.

Unmöglich in diesem Zusammenhang nicht an den Heiligen Benedikt von Nursia (früherer Name von Norcia) zu denken, der in diesem Gebiet den religiösen Sinn des Seins mit Arbeit, Natur, kulinarischem Wohl und Architektur in Einklang gebracht hat. Geschichten, die uns die Steine und die hier herrschende Ruhe sowie diese etwas rebellische, herrische Natur erzählen, die scheinbar immer kurz davor ist, sie uns wieder zu entreißen.

Eine alte, Sibylle von Norcia darstellende Gravur – die legendäre Bewohnerin der gleichnamigen Grotte des Monte Sibilla, die seit Jahrhunderten die Anhöhe in den Schleier einer legendenumwobenen, geheimnisvollen Aura hüllt.

Ansicht des Pilato-Sees

Der Monte Sibilla auf einer Zeichnung von Antoine de La Sale (1420), aufbewahrt in der Biblioteque Nationale de Paris

Der schmale Kamm, der von der Spitze des Redentore zur Punta del Diavolo führt.